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„Wir müssen raus aus der Wegwerffalle“

Der viel beachtete Protestonaut-Kalender steht 2021 im Zeichen der Nachhaltigkeit und geht im Herbst bereits für 2022 in die 8. Runde. Wir führten ein inspirierendes Interview mit den beiden Machern des außergewöhnlichen Fotokalenders aus Deutschland rund um den Astronauten: Fotografin Sophia Hauk und Diplom-Politologe Alexander Hauk im Gespräch mit Packmas.JETZT. Sie sind überzeugt: „Wir müssen raus aus der Wegwerffalle“.

Christoph Reicho

Christoph Reicho / Packmas.JETZT: Der Protestonaut-Kalender 2022 erscheint im Herbst 2021 in der bereits 8. Ausgabe. Sie scheinen einen langen Atem zu haben. Wie viele Kalender sollen noch folgen und was ist der Motor Ihrer Motivation dafür?

Sophia Hauk: Seitdem wir im Frühjahr 2014 mit der Arbeit an der ersten Kalenderausgabe angefangen haben, sind mehr als 90 Motive zu gesellschaftspolitischen Themen entstanden. Deshalb hängt der Protestonaut-Kalender auch an überdurchschnittlich vielen Bürowänden von PolitikerInnen, was uns zunächst überrascht hat. Einige Fotomotive waren bereits bei mehreren Ausstellungen in Deutschland zu sehen. Außerdem durften wir das Projekt auf einer internationalen Fachtagung an der Universität Heidelberg vorstellen. Die anfängliche Sorge, dass uns mal die Themen ausgehen könnten, ist längst verflogen. Ein Blick auf die tägliche Nachrichtenflut reicht aus, um festzustellen: Für die kommenden Jahre ist noch genügend Material da. Gerade arbeiten wir für die 2022-Ausgabe an einem Kalender zum Thema Energiewende. Wir verfügen tatsächlich über einen langen Atem, können aber glücklicherweise auch auf viele Menschen bauen, die uns in den vergangenen Jahren auf vielfältige Weise unterstützt haben. Das fängt bei Motiv- und Themenvorschlägen an, geht weiter über Fotogenehmigungen, Korrekturlesen bis hin zur Layout-Gestaltung – um nur einige der Arbeitsschritte bis zum fertigen Protestonaut zu nennen. Mehrere nette Menschen unterstützen das Projekt auch finanziell über die Crowdfunding-Plattform Steady. Im Idealfall regt der Kalender zum Nachdenken und zur Diskussion an. Eine weitere große Motivation für uns als Urheber sind die vielen interessanten Menschen und Orte, die wir bislang bei der Arbeit zum Kalender kennenlernen durften.

CR: Der 7. Protestonaut-Kalender für das Jahr 2021 erschien unter dem Motto „Nachhaltigkeit“ – ein Begriff, der mittlerweile medial schon sehr abgenützt ist und auch für eine gewisse Verallgemeinerung steht. Was verstehen Sie persönlich unter Nachhaltigkeit und worauf haben Sie sich in der Erstellung des neuen Kalenders fokussiert? Und warum?

Alexander Hauk: Der Begriff Nachhaltigkeit stammt ursprünglich aus der Forstwirtschaft, hat eine lange Geschichte hinter sich und ist trotzdem sehr aktuell. Wir verstehen unter Nachhaltigkeit den bewussten und verantwortungsvollen Umgang mit Ressourcen. Unser Handeln sollte es ermöglichen, dass sich Systeme und Ressourcen natürlich regenerieren können. Als konkretes Negativ-Beispiel seien hier die weltweite Fischerei und die problematische Überfischung genannt. Bei der Erstellung des Protestonaut-Kalenders zum Thema Nachhaltigkeit spielen viele Punkte eine Rolle: darunter die Relevanz und die Umsetzbarkeit des Fotomotivs. Inklusive dem Titelblatt steht uns Raum für 13 Fotomotive zur Verfügung. Da kann man ein Thema schon breit abdecken. In der aktuellen Ausgabe waren das unter anderem: Urban Gardening, Insektenhotel, Second Hand, Verkehrswende, Leitungswasser und Recycling. Die Kalendermotive sind in Berlin, Leipzig, im bayerischen Mindelheim und Oberschweinbachbei München entstanden. Rund ein halbes Jahr haben wir an dem 17-seitigen Kalender im DIN-A3-Format gearbeitet, der im Verlag Hans Högel erschienen ist.

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Alle Motive des Protestonaut-Kalenders 2021

CR: Es steht außer Diskussion, dass wir in einer Ressourcen verschleudernden Wegwerfgesellschaft leben, aber wie soll der Vorschlag für langlebige Produkte in einer vom Turbokapitalismus bestimmten Wirtschaft Anklang finden? Zumal die Politik mittlerweile sehr eng mit den Unternehmen verwoben ist und nicht gerne Arbeitsplatz-Verluste riskiert. Braucht es einen kompletten System-Wandel?

SH: Es ist richtig, dass es Expertinnen und Experten gibt, die der Meinung sind, dass wir statt einer marktkonformen Demokratie einen demokratiekonformen Markt bräuchten. Und allein schon weil die Ressourcen begrenzt sind, kann das Wirtschaftswachstum nicht unendlich wachsen. Viel wichtiger ist jedoch, dass wir uns bewusst werden, dass unser Handeln und Konsumverhalten Konsequenzen hat – und zwar weltweit. Ein Kleidungsstück, das wir in einem Geschäft vor Ort für kleines Geld erstehen, hat in der Regel einen langen Produktionsweg hinter sich, wahrscheinlich haben es Menschen unter unwürdigen Arbeitsbedingungen hergestellt und es wurden dabei Gewässer mit Giftstoffen verschmutzt. Brauchen wir wirklich Fast-Fashion? Das muss jede und jeder von uns für sich entscheiden. Was wir brauchen sind nicht – um eine Zahl zu nennen – eine Million Menschen, die alles zu 100 Prozent richtig machen, wir benötigen in Europa 240 Millionen motivierte Menschen, die jede und jeder für sich etwas besser machen wollen und sich bewusst für ein umweltverträgliches Leben entscheiden. Hoffnung macht, dass es endlich auch in Unternehmen ein Umdenken gibt. Hinzu kommt, dass Deutschland mit dem Grundgesetz eine der weltweit besten Verfassungen hat. Das Grundgesetz lässt Politiker: innen in der Ausgestaltung der einzelnen Gesetze viel Spielraum.

CR: Wie schaffen Sie den moralischen Spagat zwischen der Arbeit für große Unternehmen und Agenturen, die womöglich selbst nicht nachhaltig produzieren, und dem künstlerischen Anspruch auf sozialkritischen Protest?

SH: Auch Unternehmen wollen sich weiterentwickeln und suchen innovative MitarbeiterInnen. Im Geburtenlotto haben Menschen in so genannten Industrienationen das große Los gezogen. Und das Glück, in Ländern zu leben, in denen ihnen viele Chancen offen stehen. Allerdings: Die Art und Weise wie wir leben, bringt große Herausforderungen mit sich, für die Umwelt und für nachfolgende Generationen. Hinzu kommt, dass unsere Wirtschaft sehr vernetzt ist. Das bedeutet: Wer in Sachen Moral auf Nummer sicher gehen möchte, müsste eigentlich Selbstversorger werden, was allerdings wohl die wenigsten von uns können und wollen. Als Macher des Protestonaut-Kalenders können wir uns nach mehr als 20 Jahren Berufserfahrung und noch mehr Jahren an Lebenserfahrung inzwischen unsere Kunden und Geschäftspartner aussuchen. Diesen „Luxus“ haben aber wohl die wenigsten Menschen.

Fotografin Sophia Hauk

CR: Welche konkreten, „nachhaltigen“ Schritte, die einfach und schnell umsetzbar sind, wären aus Ihrer Sicht bereits heute für jede Einzelperson möglich?

AH: Vorweg: Unser Konsumverhalten ist falsch und wortwörtlich lebensgefährlich. Was den Ressourcenverbrauch betrifft, leben wir weit über unsere Verhältnisse. Wenn alle Menschen so leben wollten, wie wir in Deutschland, bräuchten wir drei Erden. Zum Vergleich: Im Mittelalter besaß hierzulande jeder Mensch im Durchschnitt 30 Gegenstände, um 1900 fanden sich rund 180 in jedem Haushalt, heute sind es etwa 10.000. Jede/r Einzelne kann etwas für einen nachhaltigen Lebensstil und gegen Ressourcenverschwendung tun: Wir müssen raus aus der Wegwerffalle und den Dingen wieder Wertschätzung entgegenbringen. Dabei geht es nicht darum, das komplette Leben umzustellen und auf alles zu verzichten. Jeder ist aufgefordert, sich Gedanken zu machen. Es gibt viele Möglichkeiten, nachhaltig zu leben. Zum Beispiel, indem man seltener etwas Neues kauft, öfter Dinge teilt oder sich im Secondhandladen modisch einkleidet. Auch der Wechsel zu einem Ökostrom-Anbieter ergibt mit Blick auf die Klimakrise Sinn. Jede/r muss für sich selbst entscheiden, was für sie oder ihn am besten passt. Wer nach dem Motto „Refuse, Reuse, Recycle“ lebt, macht schon vieles richtig. Wer öfter mal Dinge ablehnt, schleppt weniger Müll nach Hause und je weniger wir konsumieren, desto weniger muss produziert und später entsorgt werden. Ein Bitte-keine-Werbung-Aufkleber auf dem Briefkasten, kann eine/n zum Beispiel vor viel Papiermüll verschonen. Wir verzichten für den Protestonaut-Kalender bewusst auf eine Plastikschutzfolie und verwenden stattdessen Seidenpapier. Während der Corona-Zeit ist vielen von uns klar geworden, dass wir gar nicht so viel brauchen. Viele haben kräftig aussortiert und Dinge, die nicht mehr benötigt werden, weitergegeben. Wir kaufen aber nicht nur viel mehr, als wir wirklich benötigen – viele Dinge werfen wir auch zu schnell weg. Das war nicht immer so. Früher haben wir alles repariert und möglichst lange funktionstüchtig erhalten. Das war viel billiger, als etwas neu zu kaufen. Ständig Neues konnte man sich auch gar nicht leisten. Die Folgen unserer Ex-und-hopp-Mentalität und Wegwerfgesellschaft sind massiv: Menschen müssen unter gesundheitsschädigenden Bedingungen arbeiten und die Umwelt wird zerstört. Dabei gibt es oft keinen echten Bedarf, ständig Neues zu kaufen, sich zum Beispiel ununterbrochen neu einzukleiden. Noch rund 30 Jahre würde die derzeit existierende Bekleidung für die gesamte Menschheit ausreichen. Ein gutes Produkt ist ein Produkt, das wenig Ressourcen verbraucht, viele Funktionen hat und langlebig ist. Deshalb tragen Unternehmen eine große Verantwortung. Sie müssen wieder langlebige, enkelfähige Produkte herstellen. Auch der Staat kann positiven Einfluss nehmen: Auf gebrauchte Produkte könnte er zum Beispiel eine verminderte Mehrwertsteuer erheben oder komplett auf sie verzichten. Die Politik könnte Unternehmen dazu verpflichten, Gegenstände langlebig zu planen und zu produzieren, Reparaturpläne für alle Geräte zu veröffentlichen und Ersatzteile vorrätig zu halten. Wir brauchen eine innovative Kreislaufwirtschaft, in der zum Beispiel Pfand auf alle Verpackungen erhoben wird.

Diplom-Politologe Alexander Hauk

CR: Menschen aus aller Welt bestellen den Protestonaut-Fotokalender. Haben Sie das Gefühl, dass Ihre Arbeit eine global orientierte Gesellschaft ohne Grenzen fördert?


SH: Dank des Projekts haben wir uns ein großes Netzwerk aufgebaut mit Kontakten in vielen Ländern. Für die Fotos waren wir bisher in Deutschland, Österreich, Schweiz und Griechenland. Die weiteste Bestellung hat uns aus Australien erreicht. Wenn wir zu mehr Völkerverständigung beitragen können, wollen wir uns nicht beschweren. Realistisch betrachtet ist unser Einfluss allerdings allein schon mit Blick auf die Auflagenzahl eher klein. Der Protestonaut kann aber sicher zum Nachdenken und zur Diskussion anregen – über Ländergrenzen hinweg.

CR: Wie sieht Ihre Wunsch-Vision des Planeten Erde im Jahr 2050 aus?

AH: Wir hoffen, dass wir eine Antwort auf die von Menschen verursachte Klimakrise gefunden haben, deren Ausläufer uns bereits jetzt zu schaffen machen. In diesem Zusammenhang haben fossile Energieträger ihre Bedeutung verloren, weil regenerative und deutlich umweltfreundlichere Energien an ihre Stelle getreten sind. Aufgrund der dezentralen Energieversorgung sind die Gesellschaften gerechter geworden. Das hat auch dazu beigetragen, dass kein Land mehr Angriffskriege wegen seiner Rohstoffe fürchten muss. Die individuellen Fähigkeiten jedes einzelnen Menschen werden von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft stärker als bisher gefördert.

CR: Wovon lassen Sie sich für die Erstellung der Kalender inspirieren?

SH: Wir greifen auf verschiedenen Quellen zurück. Die Ideen zum Protestonaut-Kalender entstehen dabei oft spontan, zum Beispiel bei Gesprächen mit Freunden und Bekannten. Aber auch Medien und Blogs sind hilfreiche Ideen-Lieferanten. Manchmal scheinen wir aber auch mit unserem Kalender zu inspirieren und haben offenbar einen Riecher für kommende Themen. Bereits mehrmals wurden die von uns ausgewählten Themen und Motive – die ja bereits etwas ein Jahr zuvor entstanden sind – von verschiedenen Medien aufgegriffen. Besonders häufig ist uns das beim Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL aufgefallen.

CR: Würden Sie gerne einmal im All eine Protestonaut-Fotokalender-Ausgabe fotografieren?

SH: Eine interessante Idee, die wir bisher noch nicht in Erwägung gezogen haben. Es gibt noch viele Themen und Motive, die wir auf der Erde umsetzen können, deshalb sehen wir uns eher als Bodenpersonal. Aber vielleicht schafft es ja ein Protestonaut- Kalender oder eine Postkarte mit einem Protestonaut-Motiv einmal ins All. Das würde uns sehr freuen.

Wir danken für das Gespräch!

Weitere Informationen zum Projekt: www.protestonaut.de

Weitere Informationen zur Fotografin Sophia Hauk: www.sophialukasch.com

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Fotocredit: Protestonaut

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